Wie gehen wir mit Grenzen um?
In der Vorstellung des Geometers ist die Grenze etwas Abstraktes: Der Grenzstein ist Symbol für einen Punkt, und auf einen Punkt kann man sich nicht setzen. Die Grenze stellt man sich als Linie vor, auf der man definitionsgemäss nicht gehen kann: sie trennt zwei Flächen, entweder wir stehen hüben oder drüben und wenn wir uns getrauen drauf zu stehen, schneidet sie uns messerscharf entzwei. Es ist ein geometrisches Denken: so haben wir die Erde vermessen, ein Netz von Grenzlinien, Ordnungslinien, Koordinaten installiert.
In der Kunst ist das anders. Auch da gibt es Punkt - Linie - Fläche - Körper/Raum. Sie werden als Instrumente gebraucht um einer Vorstellung Gestalt und Form zu geben. Bei diesem Arbeitsprozess geht es ständig um Abgrenzung und Eingrenzung. Und es geht ums Versetzen, Verwischen, Überschreiten und Sprengen von Grenzen. Der Rahmen ist ein augenfälliges Beispiel für ein Abgrenzungs-Eingrenzungs-Instrument. Allerdings ist die Welt, die wir damit erfassen und einfassen eine symbolische.
In einer globalisierten Welt der grenzenlosen Kommunikation, des alle Grenzen überschreitenden Handels und Verkehrs gilt die grenzenlose Welt als die freieste und beste aller Welten. Wir kennen die Rhetorik. Dahinter versteckt man gerne die, gerade mit der "Globalisierung" neu geschaffenen, Grenzen und jene die uns nicht oder nicht mehr bewusst sind.
Tatsächlich aber leben wir in einem dichten Netz von Grenzen. Sie fahren durch uns hindurch. Wir stolpern über sie, ständig und überall. Die Spuren, die wir hinterlassen, sind Marksteine, Zäune, Mauern, Netze: Hindernisse für uns und andere. Nicht dass wir das so wollten - es passiert uns so.
Schlagen wir uns nicht täglich mit einem Wirrwarr von offensichtlichen und unsichtbaren Grenzen herum? Ein Gewirr von Linien, Schnüren, Spinngeweben und auch zähen, unzerreissbaren Fäden. Sie schlingen sich beim Laufen um unsere Füsse, behindern uns im Fortschreiten und im Fortschritt. In jeder Geste, bei jedem Wort tauchen sie auf. Unsichtbare Grenzen in unseren Köpfen, in Gesetzesbüchern, heiligen und unheiligen, wissenschaftlichen und esoterische Schriften. Und wiederum ist es ein Gemisch aus Realität und Vorstellung.
Warum brauchen wir sie?
Warum nutzen wir jede Gelegenheit um unsere Linien zu ziehen, ein Stück Land vom übrigen abzutrennen, zur unantastbaren Einheit zu erklären? Warum ist uns die Form-Gebung durch Abgrenzung so wichtig? Eine Form will endgültig sein. Wir wollen etwas definieren (lateinisch "fines" = Grenzen, Ende). Definieren heisst demnach: zu Ende bringen, abschliessen. Westliches Denken ist geprägt vom Definieren. Warum wollen wir es abgeschlossen haben?
Gibt es auch Licht-Grenzen? Die Grenze zwischen Tag und Nacht, die Dämmerung, dieser sanfte Übergang: Das ist keine klare Sache. Im Gegenteil, es ist zwielichtig, suspekt und mit viel Gefühlsballast beladen. Mit dem künstlichen Licht haben wir versucht, klare Verhältnisse zu schaffen. Ja, wir waren überzeugt davon, mit "on" & "oft" die Dunkelheit kontrollieren zu können. Dass dann eine Unzahl von sich überlagernden Beleuchtungs-Systemen entstanden sind, die einander unkontrolliert dreinfunkeln, daran haben wir nicht gedacht. Nun müssen wir's wieder neu regeln, Grenzen setzen…
Könnte es ein Denken und Vorstellen geben, das ohne Grenzen-Ziehen auskommt? Könnte es ein Leben und Handeln geben, in dem Grenzen keine Rolle spielen? Ausstrahlen statt begrenzen? Weiche, schummrige Übergänge statt Linien? Schwimmen oder Schweben – ohne jegliche Sicht auf Land und festen Boden unter den Füssen? Eins-Sein in einem Kontinuum ohne Ausgang, ohne Eingang? Östliches Denken geht vom Ganzen, von der Verbundenheit mit dem "All" aus.
Brauchen wir vielleicht die geschlossene Form, mit Grenzzäunen oder gar hohen Mauern gesichert, um damit einen Schön- und Schutz-Raum zu schaffen? Damit etwas, das uns lebenswichtig und lieb ist, bewahrt werden kann? Oder in Ruhe im abgeschlossenen Laboratorium Neues entwickelt werden kann?