In der Psychologie und Soziologie spielt der Begriff der Grenze eine wichtige Rolle. Es geht um das Begriffspaar des Eigenen und des Fremden. Für eine Identität braucht es beides, das Eigene und das Fremde, also das Überschreiten-Können von Grenzen. Dass es sie gibt, ist aber entscheidend.
Bewusst enge Grenzen zu setzen ist aber auch eine Methode. So sind wir gezwungen uns zu konzentrieren, eine Sache genau anzuschauen, uns in ein Detail so zu vertiefen, dass es ebenso interessant wird wie die ganze Welt
Der ungesicherte Weg zwischen Diesseits und Jenseits
Grenzen in der Vorstellung zu sprengen oder zu überschreiten scheint leicht. Aber ist diese "Transzendenz" wirklich einfacher als der Umgang mit realen Grenzen? Dieses schwierige, seit Jahrtausenden immer wieder umgedeutete Wort "Transzendenz". Es hat eine wunderbaren, einen goldenen, aber auch unheimlichen und bitteren Geschmack: Was sind das für Grenzen, die wir gerne oder ungerne transzendieren und was für Welten liegen jenseits – oder gar im "Jenseits"?
Die Frage nach der Grenze ist auch die Frage nach dem Anfang und dem Ende. Wir möchten wissen woher wir kommen und wohin wir gehen. Wenn es Grenzen gibt, gibt es auch Anfang und Ende. Aber wir wissen nichts Bestimmtes darüber. So ist die Frage nach der Grenze selbst eine Grenze: die zwischen Wissen und Nichtwissen. Und gerade diese Grenze ist nicht endgültig festgelegt, bleibt unscharf. Zwar wissen wir immer mehr, aber paradoxerweise wächst mit dem Wissen auch das Nichtwissen. Das ist ärgerlich. Da sind wir am Hag, machtlos.
An diesem Punkt versprechen uns die Religionen Hilfe: Im Glauben, in der Meditation, im Moralisch richtigen Handeln diese Grenze zu überwinden. Das "Ganz Andere" zu erleben, "ewiges Leben" zu erlangen.
Dass es sie gibt, diese je nach Standpunkt "ärgerliche" oder "heilige" Grenze, ist kaum zu bezweifeln. Die Frage ist, ob wir sie unbedingt überwinden müssen. Oder als eine Gegebene respektieren können. Und die zweite Frage ist, ob die anderen Grenzen, die selbst errichteten, ebenso absolut und heilig behandelt sein dürfen. Um sie dann möglicherweise anderen aufzuschwatzen oder aufzuzwingen.
So kann Transzendenz in einem anderen Kontext verstanden werden: Von der einen Art, die Welt zu betrachten, zu einer anderen Weltanschauung überzugehen. Von der Idee, die Zeit in Stunden, Tage, Monate und Jahre zu ordnen zu einer anderen Zeitauffassung zu gelangen, egal ob sie "besser" sei oder schlechter. Das sind geistige Grenzen, die zu überschreiten nicht einfach, zuweilen unerhört, ist.
Wenn dieses Überschreiten von selbst gesetzten Ordnungen immer wieder gewagt wird, verliert es mit der Zeit den Charakter des Unglaublichen. Werde ich damit zum Ungläubigen? Ja, wenn ich mein selbst gezimmertes System mit einem absoluten Glauben verbunden hatte! Eigentlich weiss jeder Gläubige, dass sein System nur innerhalb der eigenen Grenzen stimmt. Harmonie ist nur innerhalb möglich. Täglich erfahren wir, dass kein System absolute Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmen kann. Wir haben ja gelernt, Beziehungen über die Grenzen einer Ordnung hinaus zu pflegen. Und indem wir Verbindungen herstellen, relativieren wir ein System.
Die Linie als Grenze und Weg:
Sowohl in den Wissenschaften wie in den Künsten setzen wir die Grenze als Instrument ein:
"Naturgesetze" werden entdeckt, definiert und nach einer späteren Analyse wieder verworfen; Nach einer teilweisen Rehabilitation wird die neue alte Ansicht wieder eingegliedert jedoch relativiert – beeinflusst aber das Denken in einer angrenzenden Disziplin nachhaltig. So wie etwa die Quantenphysik die Gesetze der Mechanik relativierte, wie ökonomische "Gesetze" soziologische Forschung beeinflusst oder mit theologischen Überzeugungen schon mal die Biologie auf den Kopf gestellt werden soll.
Ein Bild wird gemalt, eingerahmt und gewürdigt. Nachdem wir es dann in einen anderen Rahmen gestellt haben, werden plötzlich andere Bezüge sichtbar. Im Kopf des betrachtenden Künstlers tut sich ein ungeahnter Möglichkeitsraum auf, eine neue Idee wird formuliert, in eine Form gegossen, auf ein Podest gestellt. Bis ein kleines Kind kommt und entdeckt, dass jenes Podest mit der neuen Form verschmolzen zu einer Figur mutierte, die selbständig steht, geht und spricht…
Hinter den scheinbar klaren Grenzlinien liegen komplexe Wirklichkeiten. Grenzlinien sind eigentlich nur Hilfslinien. Linien auf Zeit...